Prinzipien, Praxis und Forschung eines internationalen Peer-Ansatzes:
Intentional Peer Support
Peer-Unterstützer aus Vermont (USA) mit einem Poster, das die Grundprinzipien und Aufgaben von IPS zeigt.
Intentional Peer Support (IPS) gewinnt international als innovativer Ansatz in der psychosozialen Unterstützung an Bedeutung. Dieses von Peers entwickelte Konzept stellt traditionelle Hierarchien in Frage und fokussiert auf wechselseitiges Lernen, gemeinsame Verantwortung und sozialen Wandel in Beziehungen. Der folgende Artikel gibt einen Überblick über die Grundprinzipien und die Entstehung von IPS und analysiert, wie IPS in verschiedenen Ländern angewendet wird, welche aktuelle Forschung zu Wirksamkeit und Auswirkungen vorliegt und welche Rolle IPS im Spannungsfeld zwischen professioneller Psychiatrie und alternativen Unterstützungsansätzen spielt.
Grundprinzipien und Konzept von IPS
IPS versteht sich als Beziehungsansatz, bei dem Menschen mit ähnlichen Erfahrungen („Peers“) einander auf Augenhöhe unterstützen. Zentral ist die Idee, durch intentionale (absichtsvolle) Gestaltung der Beziehung neues gegenseitiges Verständnis und Wachstum zu ermöglichen. Im Gegensatz zur traditionellen Helfer-Klient-Beziehung werden keine Defizite oder Diagnosen in den Vordergrund gestellt, sondern die Beteiligten erforschen gemeinsam, wie sie ihre Erfahrungen verstehen und neue Bedeutungen finden können. IPS gilt zudem als traumainformiert: Statt zu fragen „Was stimmt nicht mit dir?“, fragt man „Was ist dir passiert?“.
Die Grundprinzipien von IPS lassen sich mit drei Perspektivwechseln umschreiben:
-
Lernen statt Helfen – Beide Personen in der Beziehung verstehen sich als Lernende mit wichtigen Beiträgen, anstatt dass eine Seite einseitig „hilft“.
-
Beziehung statt Individualisierung – Der Kontext der Beziehung und Gemeinschaft wird betont. Veränderung wird als gemeinsamer, wechselseitiger Prozess gesehen, nicht als individuelle Pflicht jedes Einzelnen.
-
Hoffnung statt Furcht – Der Fokus liegt darauf, auf Ziele und gewünschte Veränderungen hinzuarbeiten, anstatt sich vor Problemen oder Rückfällen zu fürchten.
Diese Prinzipien werden in der Praxis durch vier Kernaufgaben („Tasks“) umgesetzt: Erstens den Aufbau von Verbindung und Vertrauen, zweitens das gegenseitige Verstehen der Weltbilder („how we’ve come to know what we know“), drittens die Mutualität – also Hilfe neu definieren als geteiltes Lernen und Wachstum – und viertens das Voranschreiten in Richtung dessen, was man im Leben erreichen möchte, statt nur Probleme zu vermeiden. Insgesamt bietet IPS einen Rahmen, in dem Beziehungen als Partnerschaften gesehen werden, in denen beide Seiten gleichzeitig Gebende und Nehmende sind und sich gegenseitig stärken.
Herkunft und historische Entwicklung
Entwickelt wurde IPS in den 1990er Jahren von Shery Mead und anderen Aktivist*innen der US-amerikanischen Consumer/Survivor-Bewegung (Psychiatrie-Erfahrenen). Shery Mead, selbst mit eigenen Psychiatrie-Erfahrungen, suchte nach alternativen Wegen, Menschen in Krisen zu unterstützen. Ihre persönlichen Erlebnisse mit Hospitalisierung und ihr gleichzeitiges soziologisches Studium flossen in die Entstehung von IPS ein. 1994 veröffentlichte Mead erste Texte zu diesem neuen Peer-Ansatz; später folgte das Handbuch “Intentional Peer Support: An Alternative Approach”. Die Vision war, soziale Veränderung anzustoßen: Weg von einem System, das Menschen auf Diagnosen reduziert, hin zu einer Kultur, in der gegenseitige Unterstützung und Empowerment im Mittelpunkt stehen.
Aus bescheidenen Anfängen – zunächst arbeitete Mead allein als Beraterin – entwickelte sich IPS über die Jahre zu einer breiteren Bewegung. Ab 2010 holte Mead Kolleginnen wie Chris Hansen ins Boot, um IPS als partnerschaftliches Unternehmen weiterzuführen. In den folgenden Jahren wuchs die Verbreitung über die USA hinaus: Heute existiert ein internationales Trainerinnennetz und regionale IPS-Hubs in vielen Ländern. Zu den Wegbereiter*innen der Internationalisierung zählt Lisa Archibald aus Schottland, die 2022 Mit-Direktorin von IPS wurde und die Verankerung des Ansatzes in Europa mit vorantreibt. So hat sich IPS vom ursprünglich US-amerikanischen Konzept zu einem global weiterentwickelten Ansatz gewandelt, der von vielfältigen kulturellen Erfahrungen geprägt ist.
Anwendung und Adaption in verschiedenen Ländern
Obwohl IPS in den USA entstand, wird es heute in zahlreichen Ländern und Kontexten umgesetzt. Allein über 10.000 Menschen haben weltweit eine IPS-Schulung absolviert. In 16 Ländern – darunter neben den USA z.B. Australien, Neuseeland, Island, Norwegen und mehrere europäische Staaten – gibt es zertifizierte IPS-Trainer*innen. Die Unterrichtsmaterialien wurden bereits in acht Sprachen übersetzt, um lokale Gemeinschaften besser zu erreichen. IPS-Hubs, also regionale Knotenpunkte, passen das Konzept an kulturelle Gegebenheiten an und stellen sicher, dass Schulungen und Unterstützung vor Ort stattfinden können. Zu den Aufgaben dieser Hubs gehört es etwa, IPS-Trainings zu koordinieren, Netzwerke aufzubauen und die Inhalte bei Bedarf zu übersetzen und anzupassen.
In den USA findet IPS vor allem in von Betroffenen geführten Angeboten Anwendung. Ein prominentes Beispiel sind Peer Respites – kleine Krisenhäuser, in denen Menschen in akuten psychischen Krisen von Peers begleitet werden, als Alternative zum Klinikaufenthalt. Fast alle Peer Respites in den USA schulen ihr Personal in IPS. So zum Beispiel das Respite 2nd Story in Kalifornien: Dort arbeiten ausschließlich erfahrene Peers, die nach IPS ausgebildet sind. Auch in innovativen öffentlichen Programmen wie Parachute NYC – einem gemeindenahen Akutteam in New York – wurde IPS mit anderen Ansätzen (z.B. Offener Dialog) verknüpft, um Menschen in Krisen umfassender zu unterstützen.
International wird IPS teils in bestehende Peer-Programme integriert. In Großbritannien etwa experimentierten einige psychiatrische Kliniken mit IPS-basierten Peer-Begleiter-Programmen. Eine Studie in einer Akutpsychiatrie in London zeigte, dass Peer Support Workers mit IPS-Ansatz persönliches Wachstum erfuhren und anfängliche Herausforderungen in der Zusammenarbeit mit dem Klinikpersonal überwinden konnten. Dies deutet darauf hin, dass IPS auch innerhalb traditioneller Einrichtungen praktikabel ist – sofern alle Beteiligten bereit sind, voneinander zu lernen. In Neuseeland wiederum flossen IPS-Ideen in von der Regierung geförderte Jugendprogramme ein (hier meist unter dem Begriff Peer Zone bekannt, initiiert von der neuseeländischen Aktivistin Mary O’Hagan). Generell zeigt sich: Obwohl die Grundprinzipien von IPS universell sind, wird der Ansatz lokal adaptiert. Gemeinden nutzen IPS beispielsweise in Selbsthilfegruppen, psychosozialen Diensten, Recovery Colleges oder in der Ausbildung von Genesungsbegleiter*innen, jeweils angepasst an die Bedürfnisse und Kultur vor Ort. Die globale Verbreitung trägt dazu bei, dass IPS ständig im Austausch weiterentwickelt wird – eine lernende Gemeinschaft über Landesgrenzen hinweg.
Wirksamkeit: Erkenntnisse aus der aktuellen Forschung
Die wissenschaftliche Datenlage zu IPS selbst ist noch im Aufbau, doch erste Studien und Evaluationen liefern vielversprechende Ergebnisse. Besonders gut untersucht sind Peer-Angebote, die IPS einsetzen, wie die genannten Krisenunterkünfte (Respites). Eine Auswertung des Peer Respite 2nd Story in Santa Cruz (Kalifornien) ergab, dass Gäste, die dieses Angebot nutzten, um 70 % seltener in psychiatrische Kliniken oder Notaufnahmen mussten als vergleichbare Personen ohne Zugang zum Respite. Zugleich berichteten die Teilnehmer*innen nach dem Aufenthalt eine höhere Fähigkeit, mit Krisen und Alltagsproblemen umzugehen, und die Zufriedenheit mit dem Angebot war hoch. Solche Ergebnisse deuten darauf hin, dass IPS-basierte Unterstützung einen präventiven Effekt haben und klassische Notfall-Interventionen reduzieren kann.
Auch qualitative Forschungen untermauern die positive Wirkung auf Peer-Beziehungen. So fühlen sich Menschen, die IPS erfahren, eher als aktive Gestalter ihrer eigenen Genesung statt als Patienten. In Interviews beschreiben sie, durch die gegenseitige Unterstützung Vertrauen und ein Gefühl von Zugehörigkeit zu entwickeln. Eine aktuelle Studie in den USA entwickelte sogar ein Instrument, um die Kernkompetenzen von IPS-Begleiterinnen* messbar zu machen – ein Zeichen dafür, dass die Professionalität und Wirksamkeit des Ansatzes zunehmend systematisch erfasst wird. Allgemein zeigt die Forschung zu Peer Support (unabhängig vom Modell), dass Peer-Begleitung das Empowerment, die Lebensqualität und die Zufriedenheit der Betroffenen erhöhen kann. Menschen berichten, dass sie durch den Austausch mit Ebenbürtigen Hoffnung schöpfen und neue Fähigkeiten erlernen, die ihnen im Alltag helfen.
Dennoch gibt es auch Herausforderungen, die wissenschaftlich betrachtet werden. Zum einen ist Peer Support kein Allheilmittel und wirkt unterschiedlich je nach Kontext und individueller Beteiligung. Zum anderen bewegt sich IPS in einem Zwischenraum – es ist formalisiert (mit Trainings, Standards etc.), will aber die informelle, persönliche Natur von Peer-Unterstützung bewahren. Laufende Forschungsprojekte beschäftigen sich deshalb z.B. mit der Frage, wie IPS-Programme langfristig finanziert und evaluiert werden können, ohne ihren alternativen Geist zu verlieren. Insgesamt lässt sich festhalten, dass die bisherigen Studien die Wirksamkeit von IPS tendenziell bestätigen – sowohl in harten Kennzahlen (weniger Klinikinanspruchnahme) als auch in „weichen“ Faktoren wie Beziehungsgestaltung, Hoffnung und Empowerment. Weitere Untersuchungen – auch außerhalb der USA – sind allerdings nötig, um die langfristigen Outcomes und optimalen Umsetzungsbedingungen besser zu verstehen.
Zwischen professionellem System und alternativen Ansätzen
IPS entstand als Gegenentwurf zu klassischen psychiatrischen Hilfesystemen – und bewegt sich bis heute im Spannungsfeld zwischen etablierten Strukturen und Graswurzel-Alternativen. In traditionellen Settings dominieren oft hierarchische Rollen (Behandler vs. Patient) und ein klinischer Blick auf „Symptome“ und „Sicherheit“. IPS stellt diese Sicht auf den Kopf: So wird beispielsweise das Thema Sicherheit neu definiert – statt zu fragen, ob eine Person „eine Gefahr für sich oder andere“ ist, stellt man in der Peer-Beziehung die Frage: „Ist unsere Beziehung sicher?“. Vertrauen und gegenseitige Transparenz stehen im Vordergrund, anstelle von Überwachung und Kontrolle. Gerade in Krisensituationen, wo das professionelle System aus Sorge vor Risiken häufig Zwang und Abschottung einsetzt, setzt IPS auf Offenheit, Dialog und geteilte Verantwortung. Dies erfordert von allen Beteiligten ein Umlernen und Aushandeln von Grenzen, wie Shery Mead betont: Auch wenn es schwieriger wird, die Wechselseitigkeit aufrechtzuerhalten, wenn Angst ins Spiel kommt, ist genau dann gegenseitiges Vertrauen und gemeinsames Durchstehen der Krise zentral.
In der Praxis bedeutet das Spannungsfeld, dass Zusammenarbeit zwischen Peers und Fachleuten neu gestaltet werden muss. Anfangs gab es in einigen IPS-Pilotprojekten Widerstände von Professionellen, die Rollenunklarheiten oder Kontrollverlust befürchteten. Doch positive Erfahrungen – etwa wenn Klinikteams sehen, dass Peer-Begleiter auf Augenhöhe Zugang zu schwer erreichbaren Patient*innen finden – können Vorurteile abbauen. In einigen fortschrittlichen Einrichtungen (z.B. kommunale Recovery-Zentren oder sozialpsychiatrische Dienste) arbeiten Profis und IPS-Peers inzwischen Hand in Hand. IPS fungiert hier als Brücke: Es bringt die Perspektive der lived experience ein und ergänzt fachliche Hilfe um etwas, das das professionelle System allein oft nicht bieten kann – nämlich das authentische Teilen von Erfahrung und die Botschaft „Du bist nicht allein“.
Dennoch bleibt die strukturelle Verankerung von IPS eine Herausforderung. Expert*innen weisen darauf hin, dass Ansätze wie IPS, obwohl sie über eine starke Evidenzbasis verfügen, in biomedizinisch dominierten Versorgungssystemen nur zögerlich umgesetzt werden. Gründe sind u.a. institutionelle Trägheit, Finanzierungshürden und die Kultur der Risikoaversion. IPS steht – ähnlich wie verwandte Initiativen (z.B. die Hearing-Voices-Bewegung oder Offener Dialog) – für einen Kulturwandel in der psychischen Gesundheit, der Menschenrechte, Autonomie und gegenseitiges Empowerment betont. Diese Werte fordern traditionelle Modelle heraus, die auf Fremdbestimmung und pathologisierendem Denken basieren. Insofern bewegt sich IPS bis heute in einem Spannungsfeld: Es sucht Anerkennung und Raum innerhalb des etablierten Systems, will aber zugleich dieses System transformieren.
Fazit
Intentional Peer Support hat sich vom kleinen Experiment in den 90er Jahren zu einem international beachteten Ansatz entwickelt, der professionelle Hilfesysteme beeinflusst und zugleich eine Alternative zu ihnen bietet. Peers und Fachkräfte in der Psychiatrie schauen zunehmend auf IPS als Inspirationsquelle, um Beziehungen auf Augenhöhe zu gestalten und Heilung als gemeinsamen Lernprozess zu begreifen. Aktuelle Studien liefern erste Belege dafür, dass IPS-basiertes Peer Work nicht nur subjektiv bereichernd ist, sondern auch objektiv zu besseren Ergebnissen führen kann – von reduzierten Klinikeinweisungen bis hin zu mehr Empowerment. Die Herausforderung der kommenden Jahre wird sein, dieses Wissen zu verbreiten, weitere Forschung zu betreiben und die Kulturveränderung fortzusetzen. Denn IPS steht exemplarisch für den Wandel in der Psychiatrie: weg von Angst und Hierarchie, hin zu Hoffnung, Beziehung und gegenseitiger Unterstützung.
Quellenverzeichnis:
Offizielle IPS-Quellen
Intentional Peer Support (2024). What is Intentional Peer Support?
URL: https://intentionalpeersupport.org/what-is-ips/ (abgerufen am 17. Mai 2025).
Intentional Peer Support (2024). IPS Training
URL: https://intentionalpeersupport.org/training/ (abgerufen am 17. Mai 2025).
Mead, S. & Hansen, C. (2023). Intentional Peer Support: An Alternative Approach (4. Auflage). Intentional Peer Support Press.
Historische und konzeptuelle Hintergründe
Mead, S. (2003). Defining Peer Support. National Empowerment Center.
URL: https://power2u.org/wp-content/uploads/2017/01/DefiningPeerSupport.pdf (abgerufen am 17. Mai 2025).
Dillon, J. (2011). Intentional Peer Support and Trauma-informed Practice. Mental Health and Social Inclusion, 15(3), 115–122.
Forschungsergebnisse
Fletcher, E. H., Barroso, A., & Croft, B. (2020). A review of the evidence for peer respite services. Psychiatric Services, 71(11), 1199–1206.
Ostrow, L. & Croft, B. (2015). Results from the 2015 Peer Respite Essential Features Survey. Psychiatric Rehabilitation Journal, 38(4), 361–366.
Watson, E. (2019). The mechanisms and impacts of peer support interventions for people with severe mental illness. BMC Psychiatry, 19(1), 189.
Internationale Anwendung
Archibald, L. & Mead, S. (2022). Global IPS Implementation: Challenges and Learnings. IPS Annual Report. Intentional Peer Support Press.
URL: https://intentionalpeersupport.org/global-ips/ (abgerufen am 17. Mai 2025).
Gillard, S., Edwards, C., Gibson, S. L., Holley, J., & Owen, K. (2014). New ways of working in mental health services: a qualitative, comparative case study assessing and informing the emergence of new peer worker roles in mental health services in England. Health Services and Delivery Research, 2(19).
O’Hagan, M. (2011). Peer Support in Mental Health and Addictions: A Background Paper. Kites Trust New Zealand.
URL: https://www.peerzone.info/resources/peer-support-in-mental-health-and-addictions (abgerufen am 17. Mai 2025).
Systemische Perspektiven
Byrne, L., Roennfeldt, H., Wang, Y., & O'Shea, P. (2019). 'You don't know what you don't know': The essential role of management exposure, understanding and commitment in peer workforce development. International Journal of Mental Health Nursing, 28(2), 572–581.
Vandewalle, J. et al. (2016). Constructing a positive identity: A qualitative study of the driving forces of peer workers in mental health care systems. International Journal of Mental Health Nursing, 25(3), 272–280.
