Mit der Unterzeichnung der Konvention über die „Rechte von Menschen mit
Behinderung der Vereinten Nationen“ durch zahlreiche Staaten, tritt unter anderem
für die Betroffenen, für die Sozialarbeit, die Sozialpädagogik und die Psychologie
sowie für zahlreiche Teilgebiete der Erziehungs- und Bildungswissenschaften ein
Phänomen in den Vordergrund, das zu analysieren und zu reflektieren von Interesse
ist. Es handelt sich dabei um die sogenannte Scheinpartizipation oder auch um
Partizipation dem Anschein nach. Was aber kann man darunter konkret verstehen?
1. Definition
Die UN-BRK als Präzisierung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte fordert
bekanntlich, dass die unterzeichnenden Vertragsstaaten wirkungsvolle und effiziente
Maßnahmen auf allen – auch auf gesetzlichen! – Eben treffen, um die vollständige
Teilhabe (=Partizipation) von Menschen mit Behinderungen in allen
Lebensbereichen zu gewährleisten, zu garantieren und abzusichern. Die Bemühungen
und Anstrengungen der Staaten in diesem Kontext - so sehen es die Konvention und
das Fakultativprotokoll vor - werden von den Vereinten Nationen (in Genf) sodann
regelmäßigen Prüfungen, an die sich eine abschließende Beurteilung der UN sowie
entsprechende Empfehlungen knüpfen, unterzogen. Diese sogenannten
Staatenprüfungen können sowohl positiv als auch neutral sowie negativ bis hin zu
völlig desaströs, die obligatorische Blamage inklusive, ausfallen.
Um zumindest nicht vollständig blamiert oder an den Pranger im Zuge solcher
Kontrollen und Prüfungen gestellt zu werden, greifen manche Staaten auf ein Mittel
zurück, das man ohne den geringsten Zweifel als Scheinpartizipation oder als
Partizipation dem Anschein nach bezeichnen kann.
Definieren kann man dieses Phänomen unter anderem als das folgenlose
wiederholte Simulieren von Partizipation in unterschiedlichen
Kontexten, um den von der UN geforderten Zielen möglichst langsam,
kostenschonend und ineffizient näher zu kommen. Scheinpartizipation
ist also die Simulation von Bemühungen und Arbeit im Bereich der
Inklusion unter Einbezug Betroffener mit der Intention effizienter
Ineffizienz zur Erzeugung von Trugbildern (im Ausland, bei der UN)
inhaltslosen Inhalten, möglichst ohne weitreichende sowie wirksame
Konsequenzen. Scheinpartizipation ist soziologisch betrachtet zudem
eine Form der Strategien der Niedertracht, wie sie u. a. vom Soziologen
Roland Girtler eindrücklich beschrieben wurde, sowie eine Strategie des
permanenten Verhinderns von Fortschritten, mithin durch
Überproduktion von Phantomproblemen begleitet und gekennzeichnet.
Scheinpartizipation kann nicht zu Letzt auch als Ruhigstellung von
anspruchsberechtigten Betroffen durch sogenannte
Wohlfühlprogramme aufgefasst und definiert werden, um die Gefahren
von lettres désagréables à Genève im Zuge von « Schattenberichten« zu
minimieren bzw. in überschaubaren Grenzen zu halten.
Scheinpartizipation ist darüber hinaus zu den modernsten bürokratisch
gestützten Ärgernissen zu zählen, weil sie strukturiert und wohl
verwaltet zu leisten vorgibt, was sie letztendlich nicht zu bewerkstelligen
vermag.
Wie aber erkennen wir Scheinpartizipation aufgrund ihrer Erscheinungsformen in
den unterschiedlichsten Kontexten? Was sind ihre herausragenden Merkmale, wie
äußert sie sich konkret?
2. Phänomenologie
Es gibt gemäß bisheriger Erfahrungen von Betroffenen einige wesentliche Punkte, die
zweifelsfrei darauf hinweisen, dass im Gegensatz zu der in der UN- BRK geforderten
echten Teilhabe im Zuge diverser „Bemühungen“ um eine Verbesserung von
Rahmenbedingungen zur Inklusion Formen der Scheinpartizipation vorliegen.
Zu diesen Indikatoren zählen unter anderem:
a) Arbeitsgruppen ohne eigenes Budget
b) Arbeitsgruppen, denen eine Unmenge unterschiedlicher Themen
vorgesetzt werden, ohne selbst Themenhoheit für sich beanspruchen zu
können.
c) Arbeitsgruppen, die lediglich Vorschläge unterbreiten können, ohne
selbst auch nur einen wesentlichen Punkt verbindlich beschließen zu
können.
d) Arbeitsgruppen, die nicht repräsentativ für alle von Behinderungen
betroffenen Menschen sind.
e) Arbeitsgruppen, in denen eine oder mehrere Formen von
Behinderungen bevorzugt oder unverhältnismäßig überrepräsentiert
sind.
f) Arbeitsgruppen, deren Ergebnisse letztlich nicht oder nicht adäquat
berücksichtigt werden.
g) Arbeitsgruppen, in denen zumindest ein Teil der mitarbeitenden
Menschen mit Behinderungen trotz Zeit- und Arbeitsaufwandes
keinerlei Form der Abgeltung trotz prekärer sozialer Situation
beanspruchen kann, während wiederum andere Teilnehmer:innen
dafür zum Beispiel Arbeitszeit (= bezahlt!) in Anspruch nehmen
können.
h) Arbeitsgruppen, die ineffizient sind, weil sie sich in eigentlich wenig(er)
relevanten Details verlieren, die in der Diskussion dann
überdimensional viel Raum und vor allem Zeit einnehmen.
i) Arbeitsgruppen, mit denen sich die tatsächlichen
Entscheidungsträger:innen gerne in den Medien präsentieren lassen,
obwohl die Gruppe selbst keinerlei verbindliche Befugnisse vorzuweisen
hat.
j) Arbeitsgruppen, die sich mit allen möglichen Themen und Details
befassen und Grundsätzliches sowie für die Betroffenen wirklich
Relevantes konsequent und beharrlich aus welchem Grund auch immer
ausklammern.
k) Arbeitsgruppen einer Arbeitsgruppe wegen.
Damit Scheinpartizipation „gelingen“ kann, bedarf es allerdings noch einiger
Faktoren, die nicht außer Acht gelassen werden sollten bei allen Analysen und
Überlegungen zum Thema.
Zu diesen Faktoren zählen:
a) Divide et impera: Einer oder mehreren Gruppen werden Privilegien auf allen
möglichen Ebenen eingeräumt, während wiederum andere mit Konsequenz
ausgeblendet, nicht berücksichtigt und/oder sogar entgegen den Forderungen
der Konvention re-stigmatisiert werden, wie dies zum Beispiel bei Menschen
mit psychosozialen Behinderungen der Fall ist.
b) Einigen in der authentischen approbierten Fassung der UN-BRK eindeutig
erfassten Personen und Gruppen wird plötzlich der Status des Behindertseins
in Frage gestellt oder gar aberkannt.
c) Einige Gruppen werden regelmäßig „unabsichtlich“ aber auffallend oft einfach
irgendwie „vergessen“. Dies betrifft vor allem diejenigen, von denen
angenommen wird, sie könnten ihre Bedürfnisse und Rechte nicht selbst
vertreten.
d) Die authentische Fassung der UN-BRK wird nicht verwendet, zum Teil
irreführend falsch übersetzt und verstanden oder gar in unzulässiger Art und
Weise neu interpretiert, was wiederum die Vereinten Nationen verärgert, weil
es eben noch - übrigens 15 Jahre nach deren Unterzeichnung! - gar keine
approbierte deutsche Fassung der UN-BRK gibt.
e) Zur Darstellung von Menschen mit Behinderungen werden konsequent nur
Personen herangezogen, deren Behinderungen irgendwie sichtbar oder
augenscheinlich evident erscheinen, womit andere Personen, die ebenfalls
unter die UN-BRK fallen würden, noch einmal unsichtbarer gemacht werden.
f) Barrieren und Zugänglichkeit werden auf physische Hindernisse reduziert und
auch durchgängig so symbolisiert, während zum Beispiel psychosoziale
Hindernisse konsequent ausgeblendet werden.
g) Diskussionen über Behinderungen werden eng strukturiert und auch so
geführt, wobei in diversen Gremien stets Menschen mit allein physisch
bedingten Behinderungen stets eine gewisse Priorität eingeräumt wird.
h) Menschen mit sichtbaren Behinderungen wird generell ein Vorrang
eingeräumt, diverse Gremien sind dementsprechend durch diese zum Teil
überrepräsentiert besetzt.
3. Auswirkungen
Die Folgen der Scheinpartizipation sehen wir allenthalben überall und jederzeit.
Wirkliche und nachhaltige Teilhabe aller Menschen mit Behinderungen im Rahmen
des ihnen Möglichen findet schlichtweg fast nirgends oder eben gar nicht statt.
Responsitivität gibt es kaum, Inklusion und Integration werden immer noch
verwechselt, Menschen in die Auslage gestellt, Stereotype aufrecht erhalten. Werden
die Betroffenen dann mit der Zeit unruhig, ungeduldig oder böse, werden sie auf die
zahlreichen Gremien, Scheinarbeitsgruppen, das fehlende Budget, das System oder
andere Dinge verwiesen mit der Begründung, man/frau* sei ja immer noch auf einem
langen Weg und man/frau* bemühe sich ja ohnehin redlich.
Das ist Scheinpartizipation, das sind ihre unmittelbaren Auswirkungen und Folgen,
mit denen Betroffene seit jeher zu kämpfen haben.